Die Denkfabrikantin - Wortdruck von Lotte Lorem
Freitag, 14. November 2008
Spiegelmuffel
Heute oute ich mich offiziell als Spiegelmuffel. Ich schau wirklich nicht gerne hinein in diese glatte reflektierende Fläche, die ein mitunter sehr verstörendes Abbild der sich davor befindlichen Realität widergibt. Ich persönlich bevorzuge ja Milchglas. Das präsentiert wenigstens nur Schemen, ein angenehm verschwommenes Bild der Wirklichkeit. So bleibt einem selbst die großartige Freiheit negativ gezeichnete Realitätspartikel schöner zu phantasieren, einem werden lediglich kleine Denkanstöße geliefert, die man sich je nach Gutdünken zu einem großen, freundlich schimmernden Ganzen zusammenpuzzeln kann. Ein Heidenspaß!

Mal beide Hände aufs Herz, wollt ihr wirklich immer, dass die Wirklichkeit mit erhobenem spitzen Näschen und erhaben lächelnd (wie diese Neu-Muttis!) vor euch herumtänzelt? Vordergründig ist die Wirklichkeit vielleicht die gute Busenfreundin, die euch mit einem wohlmeinenden Knuff in die Seite auf den rechten Weg geleiten möchte. Doch warum fühlt sich dieser Knuff in unserem Inneren dann manchmal wie ein saftiger Butterknus an, der unseren empfindlichen Eingeweiden im Vollwaschgang den letzten Gleichgewichtssinn hinausschleudert?

Im Wesen der Wirklichkeit liegt es ja leider immer präsent zu sein. Das muss man ihr immerhin lassen, hartnäckig ist die Kleine. Ändert aber nichts an der Tatsache, dass wir je nach Tageszeit, Stimmungslage oder Lebensphase manchmal einfach nicht die nötige Contenance aufwenden können, bewusst Zeit mit ihr zu verbringen.

Denken wir doch einfach mal an den Klassiker. Der erste Blick in das haushaltsübliche, aluminiumbeschichtete Glasfabrikat über dem Waschbecken am Morgen danach. Wonach obliegt den persönlichen Gepflogenheiten. Dass es lang, viel oder übel war sei hier jedoch vorausgesetzt. Was sehen wir? Richtig, alles. Nur nicht das Individuum, für das wir uns vor dem „danach“ gehalten und das wir rein optisch zumindest in die Kategorie Mensch eingeordnet haben. Da haben wir nun den Salat. Ausnahmsweise geben wir dann nach unserer absolut notwendigen Körperpflege nicht dem natürlichen Drang nach, den warmfeuchten Duschdunst von der Spiegeloberfläche zu wischen. Mit schaut´s doch viel angenehmer aus, so milchig.

Den milchigtrüben Wahrnehmungszustand führen wir jedoch manchmal auch an anderer Stelle zwangsläufig herbei. Wissend, jedoch nicht unbedingt wollend. Manch eine Situation ist schlicht und ergreifend nicht für den erbarmungslos klaren Blick auf die realen Gegebenheiten geschaffen. Zu Grunde liegen häufig bewusste Entscheidungen für die Milchwirklichkeit und alles, was unser eigenes sanft-weißes Realitätsglas mit wahren Wirklichkeitsspritzern beflecken könnte, fällt der eigenen Ignoranz zum Opfer. Leider sind diese Spritzer nicht immer nur seelenlose Partikel, die sich mir nichts dir nichts wieder eindunsten lassen. Schwierig wird es, wenn diese Spritzer eigentlich menschliche Wesen sind, die versuchen unseren aufwändig gepflegten Milchspiegel frei zu wischen. Und wirklich schwierig wird es, wenn sie es gut meinen und zu allem Überfluss auch noch Recht haben.

Hier müssen wir uns entscheiden. Zücken wir selbst den Handtuchzipfel und wischen den milchigen Dunst von der Oberfläche, oder entscheiden wir uns dafür, noch ein klitzekleines bisschen im feuchtwarmen Zustand zu verweilen? Beide Wege erfordern für den ersten Schritt Überwindung. Doch auch, wenn wir uns für die zweite Variante entscheiden, ein paar Wirklichkeitsspritzer bleiben, die glänzende kleine Stellen freigelegt haben. Und die erinnern uns immer wieder aufs Neue daran, dass dieser Milchzustand nicht für die Ewigkeit bestimmt ist.


P.S. Dieser Wortdruck ist meinem persönlichen Spiegel gewidmet, den ich lange nicht von seinem Dunst befreien konnte. Zwar hat diese Aufgabe inzwischen jemand anderes erfüllt, doch mein eigenes Handtuch lag schon griffbereit. Manchmal habe ich es sogar schon in den Händen gehalten, nur um zu spüren, wie es sich anfühlt.

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